Lange Wege bis zur klaren Sicht
Ich bin ein Mann und bin es nicht – das scheint zunächst paradox, ist aber eigentlich ganz natürlich und letztlich sogar „normal“. Klarheit über Zusammenhänge und Erkenntnisse über diese Tatsache gab es für mich aber erst nach einem erstaunlich langen Findungsprozess. Grund dafür waren Tabus, falsche und fehlende Informationen, eine extrem starke binäre Definition der Geschlechter in der Gesellschaft und – vor allem in meiner Jugendzeit – starke Meinungsführer, die für eine Filterung von Informationen und übermächtige Akzente sorgten.
Außerdem gab und gibt es kaum Vorbilder, denn der Anteil nichtbinärer Menschen in westlichen Gesellschaften ist mit geschätzten unter einem Prozent ziemlich klein. Die meisten nichtbinären Menschen trauen sich zudem auch aktuell nicht, sich öffentlich zu erkennen zu geben, denn sie werden sofort als Außenseiter stigmatisiert, wenn nicht sogar als geistesgestört diffamiert oder mit Gewalt bedroht – mindestens aber ausdauernd und ziemlich schamlos beglotzt (was mir auch fast täglich passiert).
Mit etwas Abstand in der Betrachtung finden sich auch noch weitere Gründe für den langen Erkenntnisprozess und andererseits die schließlich auslösenden Einflüsse, die mir den zunächst lange verstellten Blick geöffnet haben.
Bei etwas Recherche in der psychologischen Fachliteratur zum Thema Transgender wird zum Beispiel klar, dass es offenbar keineswegs ungewöhnlich ist, wenn gerade AMAB-Personen – also Menschen, die bei Geburt dem männlichen Geschlecht zugeordnet wurden (assigned male at birth) – lange benötigen, um sich von der ursprünglichen Zuordnung zu lösen und in einer anderen geschlechtlichen Rolle zu verorten. Dies gilt offenbar besonders für nichtbinäre Menschen, da hier die Abgrenzung zur Männlichkeit natürlicherweise als nicht so krass erlebt wird wie bei binären trans Personen. Ich zum Beispiel hatte bis in mein fortgeschrittenes Erwachsenenalter von der Existenz der Kategorie nichtbinärer Menschen noch nie etwas gehört.
Das männliche Geschlecht ist außerdem so stark mit traditionellen Werten aufgeladen, dass individuelle Abweichungen sowohl vom familiären Umfeld als auch von den Betroffenen selbst typischerweise lange ignoriert, geleugnet und sogar zuweilen abgelehnt werden. Denn die Aufgabe der männlichen Rolle wird als krasser Verlust im gesellschaftlichen Ansehen und Degradierung in der familiären Rollenverteilung wahrgenommen – und das ist nicht angenehm. Männlichkeit ist Macht, Kraft und Kompetenz, die es in unserer bis heute stark patriarchalisch geprägten Gesellschaft zu verteidigen gilt – und das tun (fast) alle Männer auch nach Kräften. Wer diese Rolle nicht teilt, wird als Versager und Verräter wahrgenommen und von den üblichen Männer-Runden ignoriert und ausgeschlossen – bestenfalls.
Für eine differenzierte Rollenbetrachtung gibt es weder Standards, noch Vorbilder oder Unterstützung – vielmehr wurde und wird die männliche Rolle als Ideal vorgelebt, Widerspruch gegen die idealisierte Männlichkeit wird nicht geduldet und – auch von Frauen – reflexartig als „mädchenhaft“ abgetan. Vor allem nichtbinäre Menschen brauchen deshalb meist Jahrzehnte, bis sie zu ihrem tatsächlichen Geschlecht stehen können – selbst dann sind sie oft nicht in der Lage, die neue Rolle offen zu zeigen und zu leben. Dabei ist es keine Schande und sogar eine Stärke, (auch) „mädchenhaft“ zu sein! Zwar hat die mediale Präsenz nichtbinärer Menschen zugenommen – doch statt nachhaltiger Information wird dann eher eine Art „Vorführung“ dieser Personen geboten – Zirkus statt Aufklärung. Und in der Politik versuchen extremistische und populistische Parteien derzeit, sich mit dem Thema bei ihrem dumpf-konservativen Klientel zu profilieren, vorwiegend mit Falschinformationen und Lügen nach dem Motto „Es gibt nur zwei“ – womit die binären Geschlechter gemeint sind.
„Käseohr“ – so wurde ich in meiner Schulzeit noch im Gymnasium bezeichnet – und das sollte mich als schwach und unterlegen brandmarken. Federführend war in den ersten Jahren des Gymnasiums ausgerechnet ein körperlich behinderter Mitschüler, der mit einer äußerst aggressiven Sprechweise und unter Einschluss körperlicher Gewalt seine Positionen in der Klasse durchsetzen wollte. Zwar erntete er dafür bei den Mitschüler*innen kaum Sympathie, doch auch praktisch keinen Widerspruch. Rücksichtslose und gewalttätige Männer können nicht selten die Meinungsführerschaft unwidersprochen übernehmen – keine neue Erfahrung. Argumente sind nicht nötig, Vorurteile und Schwächen anderer hilfreich. Die rechte Szene führt das perfekt inszeniert vor und nutzt es als Propaganda für die AfD.
Die ganz natürliche Reaktion: Da es weder Unterstützung von Klassenkamerad*innen noch Lehrer*innen gab, zog ich mich zurück. Sehr lange wurde ich als introvertiert und schüchtern wahrgenommen – aber war ich das eigentlich tatsächlich? Auf jeden Fall lernte ich, mich mit mir selbst zu beschäftigen, meinen Hobbys auch mal allein nachzugehen und eigene Wege zu suchen. Ich wurde auch sehr stark zu einem Beobachter, der Entwicklungen aufmerksam verfolgt, ohne sich einzumischen oder zu beteiligen – eine Entwicklung, die sicher mit meiner späteren Berufsentscheidung etwas zu tun hat.
Dabei hatte ich sehr großes Glück, in meiner Schulklasse eine Reihe aufgeweckter und interessierter Menschen zu finden, die sich sozusagen meiner annahmen und mich in ihre Runde integrierten. Wie stark diese Freundschaften mein Leben bestimmen sollten, kann ich erst aus heutiger Perspektive ganz erfassen. Sie machten mich zu einem aufgeschlossenen, aufrechten und neugierigen Menschen ohne Vorurteile – oder es gelang ihnen, diese Eigenschaften zumindest in mir zu wecken. Auch das kam natürlich später meiner Entscheidung entgegen, journalistisch zu arbeiten. Meine Stärke konnte ich das erste Mal voll erfassen, als ich mich entschieden hatte, den Kriegsdienst zu verweigern. Gerade die Ablehnung in den damals noch nötigen „Gewissensprüfungen“ und der Erfolg vor Gericht zeigten mir, dass es richtig und stärkend sein kann, einen unbequemen Weg zu gehen und für die eigenen Überzeugungen einzustehen.
Es lohnt sich, Pfade abseits eingetretener Wege einzuschlagen – das zeigte sich auch nach der deutsch-deutschen Wende, als ich in einer neu gegründeten Zeitung und später einer lokal ausgerichteten Zeitschrift jenseits der alten Grenze im heutigen Thüringen meine Erfahrungen als Volontär und Redakteur machen durfte. Die Unbequemlichkeiten wurden mit menschlichen Erfahrungen und persönlichen Kontakten mehr als reich belohnt. Daraus speist sich bis heute meine Zuversicht, dass sich neue Erfahrungen, neue Experimente und neue Lebenswege immer wieder lohnen können. Neue Erkenntnisse können wir nur dann gewinnen, wenn wir uns immer wieder auf das Leben einlassen. Vorurteile und pauschale Festlegungen auf traditionelle Werte und Ziele hemmen uns nur.
Tragisch, dass ausgerechnet aktuell im deutschen Osten Ressentiments und Vorurteile fröhliche Urständ feiern und rassistische Rattenfänger die dumme Jugend und gescheiterte Alte um sich versammeln können. Statt neuer Aufgeschlossenheit sind wir mit einer Menge kleiner Gernegroße konfrontiert, die sich von den braunen Agitatoren vor den Karren spannen lassen.
Seit einigen Jahren darf ich nun sein, wer ich bin. Ich erlaube es mir – denn anderen gewähre ich keine Entscheidung mehr darüber, wie ich denn bitteschön als definierter Mann zu sein hätte. Und ich bin außerdem davon überzeugt, dass es nur eine Normalität dieser gelebten Vielfalt geben kann, wenn wir queeren Menschen uns nicht mehr einschüchtern lassen. Lassen wir sie glotzen! Aus meiner Erfahrung ist der Gewinn an Lebensfreunde und Zufriedenheit größer als diese Unannehmlichkeit im Alltag. Ich muss allerdings zugeben, dass ich zum Glück noch nicht mit offener Gewalt in diesem Zusammenhang konfrontiert war – hoffentlich bleibt das so!
Unsere Umgebung muss sich erst an uns gewöhnen. Insofern sehe ich mich auch in einer Art Bildungsauftrag. Es ist schon kurios, wie aus dem schüchternen „Knaben“ (Eintrag in meiner Geburtsurkunde) eine bunte, unangepasste und sichtbare nichtbinäre Person geworden ist. Ein Weg mit vielen kleinen Schritten.
Mein Arbeitsleben geht nun zu Ende – und damit fällt bald die letzte Schranke, hinter der ich noch nicht so sein darf und mich nicht so zeigen soll, wie ich bin. Solche Beschränkungen, die anhand des angeblichen Geschmacks des Mainstreams und einer möglichen Verunsicherung der Rezipienten aufrecht erhalten werden, zeigen, dass wir gesellschaftlich mit dem Thema Vielfalt noch am Anfang stehen – auch, wenn immer mal wieder Regenbogenflaggen geschwenkt werden. Vielleicht hat die Stärke des braunen Abschaums auch mit dieser Art der Verlogenheit zu tun. Vorn zeigt man sich solidarisch – doch in Wahrheit geben alte weiße Männer weiter den patriarchischen Ton an. Ähnlich übrigens erleben wir es bei Klimathemen – hier nennt man das „greenwashing“.
Meine Identität als nichtbinärer Mensch habe ich mir ja nicht ausgesucht oder ausgedacht. Die spanische Philosophin Elisabeth Duval formuliert es so: „Wir müssen hier von Unvermeidbarkeit sprechen, weil es sich nicht um eine Wahl zwischen verschiedenen Modellen aus dem Katalog handelt, nein: Das Subjekt wird konstituiert und bestimmt.“ Das trifft mein Lebensgefühl, denn: Ich versuche nur, zu dem zu stehen wie ich nun mal bin. In Duvals Überlegungen (in dem Essay „Nach Trans“) ist das Adjektiv trans eine Beschreibung eines Übergangs, der letztlich doch zu einem der binären Geschlechter-Pole führt – das gilt zumindest für jene Personen, die wir als trans Mann und trans Frau bezeichnen.
Für mich gilt das freilich nicht. Duval ergänzt: „Und schließlich ist man trans, weil es dazu keine Alternative gibt, weil es unmöglich ist, den Prozess des Übergangs unsichtbar zu machen. Es ist unmöglich, weil man eine Position einnimmt, die in einem Verhältnis der anhaltenden Störung zum aktuell herrschenden System steht, das eine Gesellschaft der Symbole, linguistischen Codes und Praktiken von Geschlecht bestimmt …“. Das trifft für mich zu.
Das müssen wir nun aushalten: Ich, meine Familie, meine Freund*innen und die Gesellschaft.
Ich glaube weiterhin an die Veränderung, an neue Ideen und Aufgeschlossenheit gegenüber einer Zukunft, die nicht unserem derzeitigen Schema der Uniformität, des Gleichlaufs und der Gier folgt. Und ich denke, dass sie uns neue Erkenntnisse und ein besseres Leben bringen kann. Bunter, interessanter, vielfältiger und reicher. Und damit ist nicht mehr Geld und Macht gemeint, sondern mehr Intensität. Wenn wir wissen, wer wir sind, können wir besser leben – das ist für mich das persönliche Fazit meiner ganz persönlichen Erkenntnisgeschichte der vergangenen Jahre.
(Oktober 2024)